Ohne Rüstung Leben e.V.
Frieden politisch entwickeln

Nachrichten - 19. Januar 2025

"Warum ziviler Widerstand funktioniert" - Vielbeachtete Studie jetzt auch in deutscher Sprache

Gastbeitrag von Markus Weingardt zum Buch "Warum ziviler Widerstand funktioniert"
Dr. Markus Weingardt, Beirat von Ohne Rüstung Leben

Die Erkenntnisse der US-Wissenschaftlerinnen Erica Chenoweth und Maria J. Stephan zur Wirksamkeit von gewaltfreiem Widerstand werden in der Fachwelt seit einigen Jahren viel beachtet. Erst jetzt allerdings erschien die wegweisende Studie in einer deutschen Übersetzung - und ist damit auch hierzulande einem breiten Publikum zugänglich. 

 

Ein Gastbeitrag von Dr. Markus Weingardt, Mitglied im Beirat von Ohne Rüstung Leben und Herausgeber der Schriftenreihe, in der die deutsche Übersetzung der Studie erschienen ist.

"Was soll man denn sonst tun?!" Spätestens nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 war diese Frage allenthalben zu hören - in Parlamenten, Talkshows, Medien und privaten Gesprächen. "Was soll man denn sonst tun?" Von manchen als ehrliche, wenngleich eher ratlose Frage gemeint, von anderen hingegen als Aussage und Bestätigung, dass es eben keine Alternativen zu Krieg, Gewalt und Waffenlieferungen gäbe.


Es mangelt an Wissen und Willen!

Die Frage ist - ernsthaft gestellt - durchaus berechtigt, doch offenbart sie zum einen, dass Verteidigung, Widerstand, Stärke zumeist unweigerlich in Gewaltkategorien gedacht werden. Was, zum zweiten, daran liegt, dass es schlicht an Wissen mangelt, wie Alternativen zu militärischer Gewalt konkret aussehen könnten. Dass es sie überhaupt gibt. Dass sie erfolgreich sein können.

Es mangelt an Wissen und, schlimmer noch, an dem Willen, sich diesbezüglich kundig zu machen, nach Antworten zu suchen, die Friedensforschung zu befragen. Mindestens bei Politik- und Medienschaffenden sollte dies aber selbstverständlich sein, bevor in Parlamenten über Krieg oder Frieden, Leben oder Tod unzähliger Menschen entschieden wird, oder in Leitartikeln, Kolumnen und Fernsehrunden angeblich realitätsferne "Lumpenpazifisten" verhöhnt werden.

Gewaltloser Widerstand ist effektiver und effizienter

Wie gut hätte es den Debatten getan und täte es noch, viel mehr Menschen hätten das bahnbrechende Werk von Erica Chenoweth und Maria Stephan zur Kenntnis genommen. Wissenschaftlich akribisch und fundiert zeigen die Autorinnen auf, "warum ziviler Widerstand funktioniert". Mehr noch: dass gewaltloser Widerstand gegen Besatzung und repressive Regime nicht nur existiert und "funktioniert", sondern auch wesentlich effektiver und effizienter ist als gewaltsamer Widerstand - nicht immer, nein, aber mit doppelt so hoher Erfolgschance.

Das ist bahnbrechend, weil es unvoreingenommen und nüchtern beides untersucht, sowohl die Gewalt als auch die Gewaltlosigkeit, und ihre jeweiligen Wirkungen und Erfolge vergleicht. Dies geschieht auf einer enorm großen empirischen Datenbasis, allen nachvollziehbar und nachprüfbar, nichts bleibt bloße Behauptung.

Erkenntnisse sind wichtiger denn je

Es geht den Autorinnen nicht um eine andere, sondern um die ganze Wirklichkeit von Konflikten und ihrer unterschiedlichen Bearbeitung. Wer sich diesen Ergebnissen verweigert, verweigert den Blick auf diese umfassende Realität. Wer also ist dann realitätsfern? Obschon die Originalausgabe bereits 2011 erschienen ist (was bei der Lektüre an einigen Stellen bewusst sein muss), sind die Ergebnisse keineswegs veraltet. Im Gegenteil, sie sind wichtiger denn je.

Die aktuellen Debatten über den Krieg in der Ukraine oder in Nahost thematisieren kaum noch Alternativen zur Gewalt, sondern drehen sich mehr und mehr um die Lieferung von Waffen, um europa- und weltweite Aufrüstung von gewaltigen Ausmaßen, um die Stationierung von neuen US-Raketen in Deutschland. Selbst die Anschaffung "europäischer Atomwaffen" oder die Entsendung von NATO-Bodentruppen ist kein Tabu mehr. Es scheint, als seien die Würfel gefallen und die Kriegs- und Gewaltlogik habe sich auf ganzer Linie durchgesetzt - "was soll man denn sonst tun?!"


Pflichtlektüre für Politik, Medien und Wissenschaft

Diese Debatten sind aber noch nicht zu Ende, sie werden nie zu Ende sein, und darum ist dieses Buch immer noch hochaktuell und eminent wichtig. Daher war es so wichtig, das bahnbrechende Werk endlich auch auf Deutsch zugänglich zu machen - spät, aber vielleicht nicht zu spät. In der Hoffnung, dass es dann auch hierzulande die gebührende Leserschaft finden und inspirieren möge.

Wer Interesse hat an Fragen von Krieg und Frieden, an gewaltlosen Formen von Widerstand und Verteidigung, an Alternativen zwischen Krieg und Kapitulation, an dritten Wegen zwischen Gewalt und "Nichts tun" - alle diejenigen haben nun noch leichter die Möglichkeit dazu. Für alle aber, die besondere Verantwortung in Politik, Medien, Wissenschaft und Gesellschaft tragen, gar über Kriegseinsätze oder Waffenlieferungen entscheiden, für alle muss dieses Buch Pflichtlektüre sein!

 


 

Erica Chenoweth/Maria J. Stephan: "Warum ziviler Widerstand funktioniert. Die strategische Logik gewaltloser Konfliktbearbeitung"


Die Studie in deutscher Sprache mit einem Geleitwort von Jürgen Grässlin und einer Zusammenfassung von Stefan Maaß ist jetzt erschienen im Nomos-Verlag Baden-Baden.

Chenoweth/Stephan untersuchten 323 Fälle zwischen den Jahren 1900 und 2006, davon 105 gewaltlose und 218 gewaltsame Widerstandsbewegungen gegen Besatzung, Diktatur und andere repressive Regime. Dabei konnten sie folgende Erkenntnisse gewinnen:


Im Unterschied zu gewaltsamen Kampagnen ist bei gewaltlosen Kampagnen unter anderem

  • die Erfolgsquote fast doppelt so hoch
  • die Zahl der Opfer und das Ausmaß der Zerstörung wesentlich geringer
  • die finanziellen und materiellen Kosten erheblich geringer
  • die Chance auf Demokratisierung nach dem Konflikt zehnmal so hoch
  • die Gefahr eines Rückfalls in Gewalt und Bürgerkrieg nur etwa halb so groß
  • die durchschnittliche Dauer der Auseinandersetzung wesentlich kürzer (3 statt 9 Jahre)

Die Hauptgründe dafür sind:

  • an gewaltlose Kampagnen können sehr viele Menschen auf ganz unterschiedliche Weise mitwirken
  • entsprechend vielfältig sind Herkunft, gesellschaftliche Verortung (und damit Einflussmöglichkeiten) und individuelle Fähigkeiten der Teilnehmenden
  • wodurch die gewaltlosen Methoden wesentlich kraftvoller, kreativer, innovativer und flexibler sind
  • weshalb gewaltlose Kampagnen für repressive Regime sehr viel schwerer auszurechnen und zu bekämpfen sind

 


 

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