Ohne Rüstung Leben e.V.
Frieden politisch entwickeln

Nachrichten - 19. März 2024

Gut besuchte Podiumsdiskussion zu EU-Atomwaffen: "Das ist keine Phantomdebatte!"

Jutta Paulus, Andreas Zumach, Özlem Alev Demirel

Wohin steuert die Europäische Union - drohen uns bald EU-Atombomben? Und wie können Frieden und Sicherheit auf unserem Kontinent gewahrt werden? Darüber debattierten Abgeordnete und Kandidierende für die Europawahl bei unserer spannenden Podiumsdiskussion in Düsseldorf. Lesen Sie die Kernaussagen hier in unserem Bericht.


Das Interesse war groß: Im Saal des Düsseldorfer Kulturzentrums "zakk" begrüßte Simon Bödecker von Ohne Rüstung Leben rund 120 Zuschauerinnen und Zuschauer. Er betonte die humanitäre Bedrohung, die von Atomwaffen ausgeht: "Einige Staaten nehmen sich das Recht heraus, ihre Interessen durchzusetzen, indem sie mit Massenvernichtungswaffen drohen. Was bedeutet es für Europa, wenn die Regierungschefs dieser Staaten Donald Trump oder Wladimir Putin heißen?"

Unter der Leitung von Moderator Andreas Zumach diskutierten darüber Jutta Paulus (MdEP, Grüne), Prof. Dietmar Köster (MdEP, SPD), Özlem Alev Demirel (MdEP, Linke) und Thomas Geisel (Kandidat, BSW). Veranstalter und Teilnehmende bedauerten sehr, dass trotz frühzeitiger und zahlreicher Einladungen keine Abgeordneten von FDP und CDU/CSU zur Teilnahme bereit waren. Wir hätten uns vor der Europawahl 2024 gewünscht, auch die Argumente dieser Parteien anhören und diskutieren zu können.

Thomas Geisel (BSW) und Jutta Paulus (Die Grünen). Foto: © Ohne Rüstung Leben

Thomas Geisel (BSW) und Jutta Paulus (Die Grünen). Foto: Ohne Rüstung Leben

 

"Barley war nicht gut beraten"

Schnell wurde klar: Alle Teilnehmenden unterstützen persönlich ein Atomwaffenverbot. In einzelnen Parteien ist die Haltung jedoch weniger eindeutig. So nannte Jutta Paulus die Debatte über EU-Atomwaffen "substanzlos" und "hochgehypt", obwohl sie von ihrem Parteifreund Joschka Fischer angestoßen worden war. Die EU-Staaten könnten sich noch nicht einmal auf eine gemeinsame militärische Beschaffung einigen, so Paulus. Die Grünen stünden weiter für eine atomwaffenfreie Welt, hätten sich jedoch in der Ampel nicht durchsetzen können.

Prof. Dietmar Köster kritisierte die eigene Spitzenkandidatin: Katarina Barley sei nicht gut beraten gewesen, EU-Atomwaffen als bedenkenswerte Option zu bezeichnen. Sie habe damit in der SPD auch keine Mehrheit. Technisch und politisch sieht Köster keine Voraussetzungen für eine atomare Bewaffnung der EU. Möglich sei allenfalls, dass Frankreich oder Großbritannien die Verfügungsgewalt über ihre Atomwaffen teilen könnten - doch niemand glaube daran, dass sie dazu bereit wären.


"EU-Atomwaffen sind keine Phantomdebatte"

Hier widersprach Özlem Alev Demirel deutlich: Die Forderung nach EU-Atomwaffen sei keine Phantomdebatte. Verteidigungsminister Boris Pistorius habe bestätigt, dass im Hintergrund bereits seit längerer Zeit konkret über EU-Atomwaffenkapazitäten bzw. eine Teilhabe an französischen Atomwaffen gesprochen werde. Und bereits jetzt gebe es die EU-Beistandsklausel, wonach die Atommacht Frankreich einen angegriffenen EU-Staat verteidigen würde.

Moderator Andreas Zumach erinnerte daran, dass der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter bereits 2017 - angesichts der Wahl von US-Präsident Trump - über EU-Atomwaffen gesprochen hatte. Das griff Thomas Geisel auf und stellte die nukleare Abschreckung in der NATO in Frage: Würden die USA wirklich sich selbst in Gefahr bringen, um einen Bündnispartner zu retten? Es sei doch generell fragwürdig, einen Aggressor durch die Drohung mit Selbstzerstörung abhalten zu wollen. Konventionelle Aufrüstung sei in einer Bedrohungslage deutlich sinnvoller.

Das Podium mit Moderator Andreas Zumach (in der Mitte). Foto: © Ohne Rüstung Leben

Das Podium mit Moderator Andreas Zumach (in der Mitte). Foto: Ohne Rüstung Leben

 

Akute Gefahr eines Atomkrieges in der Ukraine

Geisel sieht eine "Obsession" mit der Bedrohung innerhalb Europas. Der Kontinent drohe derweil zwischen den USA und China zerrieben zu werden. Nötig sei daher eine Entspannungspolitik, die die Interessen Europas in einer multipolaren Welt vertritt: Funktionierende Handelsbeziehungen und die Entschärfung von Konflikten. Er betonte, dass mittelfristig - nach Präsident Putin - wieder eine vernünftige Beziehung zu Russland möglich sein müsse. Es sei fatal, dass der aktuelle Bellizismus alle Verbindungen abbreche.

Prof. Dietmar Köster sprach sich klar für das Ziel gemeinsamer Sicherheit und Abrüstung aus. Künftig sei der Konflikt zwischen den USA und China entscheidend, im Ukraine-Krieg bestehe jedoch jetzt die akute Gefahr eines Einsatzes von Atomwaffen. Russische Generäle tauschen sich darüber konkret aus. Daher sei es die wichtigste friedenspolitische Aufgabe für Europa, den Ukraine-Krieg schnellstmöglich zu beenden. Die Haltung des Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich dazu finde in der SPD eine breite Mehrheit.

 
"Aufrüstung ist das Gegenteil von Sicherheit"

Hier widersprach Jutta Paulus: Ein Ende des Krieges in der Ukraine dürfe nicht bedingungslose Kapitulation der Ukraine bedeuten, vermeintlicher Frieden nicht in eine Terrorherrschaft führen. Die EU-Abgeordneten aus dem Baltikum und aus Polen erlebe sie sehr besorgt. Die Ukraine habe "ihre Atomwaffen" abgegeben und sei von den Sicherheitsmächten "schmählich im Stich gelassen" worden. Eine Interpretation, die Moderator Andreas Zumach korrigierte: Die Verfügungsgewalt über die Atomwaffen in der Ukraine habe zu jeder Zeit in Moskau gelegen.

Özlem Alev Demirel beobachtet, dass der Ukraine-Krieg eine große Verunsicherung in der europäischen Bevölkerung auslöst. Diese Verunsicherung werde genutzt, um Tatsachen zu schaffen und die EU Schritt für Schritt in eine Militärunion umzuwandeln. "Die Debatte, die wir hier führen, ist keine Debatte über unsere Sicherheit, sondern über eine verhärtete Konkurrenz von Großmächten", betonte sie. Aufrüstung sei das Gegenteil von Sicherheit! Alle progressiven Kräfte in Europa sollten sich dafür stark machen, dass es nicht mehr sondern weniger Atomwaffen gibt. Deutschland müsse dem Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) beitreten.

Özlem Alev Demirel (Die Linke) und Prof. Dietmar Köster (SPD). Foto: © Ohne Rüstung Leben

Özlem Alev Demirel (Die Linke) und Prof. Dietmar Köster (SPD). Foto: Ohne Rüstung Leben


"Eine neue Art der internationalen Diplomatie"

Das griff Prof. Dietmar Köster auf. Er berichtete, dass Demirel und er bei der AVV-Staatenkonferenz im Dezember in New York waren. Er hätte sich sehr gefreut, wenn auch die Außenministerin dort gewesen wäre und nicht nur die Arbeitsebene des Ministeriums, kritisierte er die Grünen. Die aktuelle Aufgabe für die EU sei es, in einer "weltpolitischen Umbruchssituation" ihre Rolle zu finden. Dazu gehöre auch, den Nichtverbreitungsvertrag nicht zu schwächen und das weltweite Atomwaffenverbot zu unterstützen.

Jutta Paulus erinnerte daran, dass auch außerhalb Europas verheerende Kriege herrschen. Den Ländern des Globalen Südens sei die Sicherheitssituation in Europa nicht so wichtig wie die Situation im Jemen oder in Haiti. Daher müsse es auch darum gehen, wirkungsvolle globale Allianzen und Möglichkeiten des nicht-militärischen Umgangs mit Konflikten zu etablieren. Was Europa und die Welt brauchten, sei eine neue Art der internationalen Diplomatie!

 
Wenig konkrete Lösungsschritte

Wie der Weg dorthin konkret aussehen könnte und was das EU-Parlament nach der Europawahl 2024 dazu beitragen kann, blieb weitgehend offen. So erlebte das Publikum eine spannende, informative und teilweise hitzige Debatte - und ging mit dem Gefühl nach Hause, dass die Politik zwar klare Ziele und Positionen hat, jedoch angesichts der riesigen Herausforderungen selbst um Antworten ringt und kaum konkrete Lösungsschritte anbieten kann.

Im Gedächtnis bleibt so vor allem der Schlussappell von Prof. Dietmar Köster: Alle pazifistischen Kräfte müssten sich in dieser Situation einbringen um eine atomare Eskalation und die Aushöhlung des Nichtverbreitungsvertrages zu verhindern und eine neue europäische Sicherheitsarchitektur mitzugestalten.

Blick auf die Bühne bei der Podiumsdiskussion zu EU-Atomwaffen. Foto: © Ohne Rüstung Leben

Blick auf die Bühne bei der Podiumsdiskussion zu EU-Atomwaffen. Foto: Ohne Rüstung Leben

 

Sehen Sie sich die Aufzeichnung der Podiumsdiskussion an:

Nach drei Tagen haben bereits mehr als 650 Menschen die Diskussion im Livestream bzw. in der Aufzeichnung angesehen. Leider hatte der beauftrage Dienstleister in den ersten Minuten Probleme mit der Übertragung des Tons - wir bedauern das sehr und bitten um Entschuldigung.

Hier finden Sie die Aufzeichnung des Livestreams

Hier finden Sie ein Video, in dem die Passagen ohne Ton gekürzt sind

(Es fehlen die Begrüßung sowie ein Teil der Eingangsstatements von Thomas Geisel und Prof. Dietmar Köster. Die restliche Diskussion ist vollständig.)


Mehr Fotos von der Podiumsdiskussion können Sie hier ansehen

Organisiert wurde die Veranstaltung vom Trägerkreis "Atomwaffen abschaffen – bei uns anfangen!" im Rahmen seines Europawahl-Projektes nuclearban24.eu. Ohne Rüstung Leben ist Gründungsmitglied des Trägerkreises und Mitveranstalter der Podiumsdiskussion.

 

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Die Vereinten Nationen haben einen Atomwaffenverbotsvertrag ausgehandelt und durch die insgesamt 122 teilnehmenden Staaten verabschiedet. Am 22. Januar 2021 trat der Vertrag in Kraft.

Auf unserer Themenseite finden Sie alle Nachrichten zum Atomwaffenverbotsvertrag.

 

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